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#238: Architektur Ethnografie
Wie kommt jedoch das Leben in die Architektur? Diese Frage treibt Architekt*innen seit jeher um, insbesondere seitdem die Einheit von Ort und Leben durch die Moderne und Globalisierung zerbrochen ist. Diese Entfremdungserfahrung ist konstitutiv für das heutige Lebensgefühl. Doch eine Rückkehr zu einem ursprünglichen In-der-Welt-Sein ist nicht möglich. Auch nicht über den Umweg der Phänomenologie. Was bedeutet es also, wenn sich Architekt*innen in den letzten 20 Jahren, nach den Ernüchterungen der utopischen Ansätze, wieder verstärkt der Lebenswelt in ethnografisch deskriptiver Weise zuwenden? Ist dies nicht ein Ansatz, der durch seine kolonialen Verstrickungen längst ad acta gelegt wurde? Die Gastredakteur*innen dieser Ausgabe, Andreas Kalpakci, Momoyo Kaijima und Laurent Stalder erinnern in ihrer Einführung daran, dass es kein geringerer als der Kurator Okwui Enwezor war, der zur Rehabilitierung des ethnografischen Ansatzes in der Kunst beitrug. Es gebe, so Enwezor, in der Gegenwart „keine exotischen Völker mehr zu entdecken und keine weit entfernten Orte mehr zu erkunden. Stattdessen haben wir den Zusammenbruch der Distanz; wir haben das, was wir intensive Nähe nennen.“1 Die Entwirrung der durch diese „intensive Nähe“ sich vielfach überlagernden Konfliktlinien im Raum ist Gegenstand dieser Ausgabe. Um anzudeuten, dass es sich bei dieser ethnografischen Wende um eine kritische Herangehensweise handelt, nenne ich sie hier provisorisch reflexive Ethnografie. Reflexiv meint, ein Bewusstsein für das inhärente Machtgefälle zwischen Beobachtenden und Beobachteten zu entwickeln, für das Andere in uns. Sie ist eine Methode, mit der wir die uns selbst fremd gewordene Welt zeichnerisch beschreibend erschließen. Doch statt im Dschungel des Alltags den Resten einer authentischen Ursprünglichkeit nachzujagen, geht es bei der reflexiven Ethnografie vielfach um die Aufdeckung unserer eigenen Verstrickungen in die unterschiedlichsten Regime und Netzwerke, aber auch um das Freilegen von Potentialen und Ambitionen einer gesellschaftlichen Situation. Was die hier präsentierten Ansätze vereint, ist das Ziel einer „intersubjektiven Verständigung“, wie Jürgen Habermas es nennen würde. Ein Ziel, zu dem interessanterweise das Medium der Zeichnung viel beitragen kann, da sie unterschiedliche subjektive Sichtweisen, Handlungs- und Sprechsituationen im Prozess des Zeichnens integrieren und sichtbar zu machen vermag. Die Beschäftigung mit der Lebenswelt der Menschen entfernt sich so von ihren ursprünglich phänomenologischen, antirationalen Wurzeln und nimmt im Sinne Habermas’ einen aufklärerischen Impetus an. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns wendet der Philosoph den Begriff der Lebenswelt kommunikationstheoretisch, die je nach Handlungs- oder Sprechsituation als Kultur, als Gesellschaft oder als Person in Erscheinung trete:
„Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in einer Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten.“2
Auf unseren Kontext übertragen ist Habermas’ Definition der Aspekte der Lebenswelt ein Fingerzeig, worauf es bei der architekturethnografischen Beschäftigung mit dem Alltag der Menschen ankommt: Es gilt nachzuvollziehen, wie kulturelles Wissen überliefert und erneuert wird, wie soziale Integration gelingt und Solidarität hergestellt wird, und wie wir als intersubjektiv Handelnde eine personale Identität ausbilden, die nicht ausschließt. Wenn es gelänge, in der Analyse des Alltags die Basis für ein gelingendes Zusammenleben freizulegen, wäre angesichts der gesellschaftlichen und ökologischen Verwerfungen bereits viel gewonnen. Schließlich ist es, so die japanische Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Yuko Hasegawa in dieser Ausgabe, „die gegenwärtige Aufgabe der Architektur, die sichtbare Welt zu restaurieren, zu erneuern und wieder aufzubauen. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe kann eine ethnografische Haltung hilfreich sein. Und zwar in dem Sinne, dass der ethnografische Ansatz bei der (Wieder-)Entdeckung der kleinen, verloren geglaubten Dinge sowie der Eigenheiten eines Ortes und damit auch bei der Erschließung neuer (oder verschütteter) Deutungshorizonte helfen kann.“ Ein zugegebenermaßen hehrer Anspruch. Und genau deswegen heißt es ARCH+ und nicht ARCH-.
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