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#244 - Wien – Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)
Dieser Erfolg verdankt sich in erster Linie einer erstaunlichen Kontinuität der politischen Einsicht der Wiener Kommune, dass Wohnen eine gesellschaftliche Aufgabe ist und nicht allein dem Markt überlassen werden darf.
Im Laufe eines bewegten Jahrhunderts hat die Wiener Wohnbaupolitik trotz dieses Grundkonsenses viele Häutungen und Wandlungen durchlaufen. Dabei ist sie durchaus marktförmiger geworden, wie in
dieser Ausgabe kritisch diskutiert wird. Doch zwei entscheidende Dinge hat sie nie aus dem Blick verloren: die Notwendigkeit des Aufbaus und Unterhalts eines Wohnraumbestands und seiner dauerhaften sozialen Bindung sowie die Bodenbevorratung. Wohnbau beginnt und endet mit der Bodenfrage. Und damit sind wir mitten im politischen Kern des Diskursraums Wohnen. Ohne die Verfügungsgewalt über den Boden hat kein
Gemeinwesen, und sei es noch so gutmeinend, eine Gestaltungsmacht über den städtischen Raum und damit über Fragen der sozialen Teilhabe.
Was wie eine Binsenweisheit klingt, ist jedoch die bittere Erkenntnis vieler deutscher Kommunen, die in den letzten Jahrzehnten ihre Wohnungsbestände und Liegenschaften durch Verkauf und Privatisierung massiv verringert haben. Mit der Folge, dass viele Kommunen unter dem
derzeitigen politischen Druck, den elementaren Bedarf an Wohnraum überhaupt zu decken, unkritisch die Modelle der Vergangenheit wiederholen, anstatt zunächst zu fragen, ob der Wohnbau – unabhängig von der aktuellen Pandemie – als monofunktionale Typologie überhaupt noch zeitgemäß ist. Diese Ausgabe, entstanden in redaktioneller Kooperation mit dem Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen der TU Wien, hat daher auch zum Ziel, aus
der vergleichsweise komfortablen Position des Wiener Wohnungsbaus heraus nach der Zukunftsperspektive des Wohnens allgemein zu fragen.
Bevor wir jedoch die Zukunft des Wohnens behandeln, sollten wir zunächst klären, was das überhaupt ist: das Wohnen. Kurz gesagt, ein Paradoxon: ein Verb, das „im engeren Wortsinn keine Tätigkeit bezeichnet“. Daran erinnert die Kulturtheoretikerin Elke Krasny in ihrem
Beitrag. Was also tun wir, wenn wir „wohnen“? Die Vielzahl der Tätigkeiten, die wir unter diesem Begriff zusammenfassen, drücken Lebensnotwendigkeiten aus: schlafen, essen, kochen, sich waschen und sich erholen. Die moderne Ausdifferenzierung der Lebenswelt weist das Wohnen dem Bereich der Reproduktion zu, d. h. der Regenerierung der Arbeitskraft, während das Arbeiten, die Welt der Produktion, räumlich davon getrennt stattfindet.
Die funktional-räumliche Trennung, die sich historisch im Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktionsweise herausbildete, ging von Beginn an zu Lasten der sozialen und kulturellen Kohäsion der Stadt. Von den ökologischen Folgen, die immer deutlicher zu Tage treten, ganz zu schweigen. Entsprechend wird sie seit langem sowohl von konservativer als auch von progressiver Seite als Grund für den Niedergang der Urbanität beklagt. Doch
während die Konservativen als Heilmittel eine sogenannte Stadtbaukunst propagieren und damit Fassadenkosmetik meinen – sie hat den Vorteil, dass sich strukturell nichts ändern muss –, muss es bei dem Thema gesellschaftlich und ökonomisch ans Eingemachte gehen. In der funktionellen Stadt manifestieren sich gesellschaftliche Verhältnisse, die dringend revidiert werden müssen.
Urbanität als gelingendes
Zusammenleben in der Stadt lässt sich nicht mit vorgeklebten Fassaden – welcher Epoche auch immer – oder gar mit Begriffsnebel wie „Schönheit“ erreichen. Wir kommen nicht umhin, die normative Ableitung des Lebens aus den monofunktionalen Architekturen des Wohnens und Arbeitens und die darin einbetonierten politischen und ökonomischen, habituellen und kulturellen, hierarchischen und geschlechterspezifischen
Verhältnisse infrage zu stellen. Oder wie es der Philosoph Ludger Schwarte in seinem Essay Revolutionen des Wohnens formuliert hat: „Der Kampf gegen die Verpflichtung der Frauen zur Sorge um das Wohnen und die Familie, der Kampf gegen die ausbeuterische Hausarbeit und die entfremdete Reproduktion muss auch eine Veränderung der Wohnungen implizieren. Und diese beginnt mit einer anderen Architektur.“
Hier nimmt Schwarte die Architektur für gesellschaftliche Veränderungen in die Pflicht, einen Anspruch, den sich die Profession selbst schon lange nicht mehr zu erheben getraut. Hat nicht bereits Friedrich Engels im Hinblick auf die Wohnungsfrage beschieden, die soziale Frage ließe sich weder architektonisch noch städtebaulich beantworten, sondern allein durch den Umsturz der herrschenden Verhältnisse? Allzu oft wurde diese Polemik gegen die
Architektur ins Feld geführt, die vermeintlich nur zum bourgeoisen Reformismus tauge. Insofern ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet ein Philosoph die Architektenschaft an ihre Handlungsmacht erinnert.
Es kommt schließlich darauf an, was man mit einem Umsturz der herrschenden Verhältnisse meint, um die Rolle zu bestimmen, die die Architektur dabei spielen könnte. Der Berufsrevolutionär Engels
versteht unter der Lösung der sozialen Frage die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, entsprechend kann die soziale Revolution nur in der Produktionssphäre angegangen werden. Dieses Maximalziel macht ihn betriebsblind gegenüber der Sphäre der Reproduktion, die zwar außerhalb des unmittelbaren Verhältnisses von Arbeit und Kapital stattfindet, aber eine Voraussetzung für das Funktionieren des kapitalistischen Systems
darstellt. Die Privatisierung und Verhäuslichung der unbezahlten Reproduktionsarbeit (meist zu Lasten von Frauen) erlaubt im Kapitalismus letztlich die Externalisierung von Kosten. Auf diese Fehlstelle in Marx’ ökonomischer Analyse haben feministische Marxist*innen seit den 1970er-Jahren hingewiesen.
Damit haben sie die Kapitalismuskritik vom Kopf auf die Füße gestellt – und der Architektur einen Weg aufgezeigt, wie sie
gesellschaftlich wirksam werden kann, trotz der ausstehenden politischen Revolution. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wenn wir aus dieser treffenden Kritik in klassischer sozialistischer Manier die Organisationsform der Arbeiterschaft auf den Bereich der Care-Arbeit übertragen und sie in Form von Gemeinschaftsküchen und anderen kollektiven Einrichtungen „sozialisieren“ würden. Das wäre bestenfalls eine kosmetische Antwort auf
die existierenden, genderspezifischen Machtverhältnisse. Stattdessen muss die Schlussfolgerung lauten: Wenn die Trennung von Arbeit (Produktion) und Wohnen (Reproduktion) eine Voraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise bildet, kann die Architektur nur einen Beitrag zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel jenseits der vordergründigen Verbesserung der Wohnverhältnisse leisten, indem sie diese
Trennung aufhebt! Sie muss den Wohnbau in der Form, in der wir ihn als ausschließende Typologie seit Beginn der Moderne betreiben, beenden. Sie muss Wohnen als gesellschaftliche und damit städtische Funktion begreifen. Die Beispiele in dieser Ausgabe zeigen in nuce Aspekte eines solchen Umdenkens.
Am radikalsten hat sich in diesem Zusammenhang der Wiener Architekt Werner Neuwirth formal und inhaltlich
positioniert, mit seinem Projekt Atelierhaus C.21:
„Wir müssen verstehen, wie stark die modernistische Versteinerung des Arbeitens und Wohnens – bis in die arbeitsrechtlichen Dinge hinein – bis heute unser Leben bestimmt. Ich glaube aber, dass sich die Realität für viele weg von dieser starren Trennung bewegt hat und die Bautätigkeit, die wir heute praktizieren, an dieser gesellschaftlichen Verschiebung vorbeigeht.
Vor diesem Hintergrund ist der Raum als reines Potential, als Kubatur, worin sich jemand verwirklichen kann, für mich zentral, um dieses Denkmuster zu überwinden.“
In dieser Lesart kann die „reine“ Architektur, wer hätte das gedacht, eine Antwort auf eine der grundlegenden politischen Fragen unserer Zeit geben: und zwar indem sie das Denken in festgelegten Funktionen hinter sich lässt. Hier soll,
wohlgemerkt, nicht der Fiktion einer Autonomie der Architektur das Wort geredet werden. Im Gegenteil. Es geht um nichts anderes als um die Befreiung des Raums aus seiner typologischen Gefangenschaft, mit anderen Worten: um die Entfunktionalisierung des Lebens. Oder, um Ludger Schwarte noch einmal zu zitieren und auf die Ausgangsfrage nach der Zukunftsperspektive des Wohnens zurückzukommen: „Zukünftige Architektur
sollte es sich nicht mehr zur Aufgabe machen, soziale Rollen und Funktionen festzulegen und durchzusetzen, sondern von diesen zu befreien.“ Zu dieser Befreiung führt ihm zufolge nur ein Weg: Der Wohnbau als Typologie muss überwunden werden.
In gleicher Weise argumentiert der Wiener Urbanist Andre Krammer, dessen These vom „Ende des Wohnbaus“ wir für den Untertitel dieser Ausgabe übernommen
haben: „Paradoxerweise könnte das Ende des Wohnbaus als eine klar abgegrenzte Typologie mit vorgegebenem Formenrepertoire, seine Auflösung und sein Eingehen in eine kollektive Wunschprojektion, die Zukunft des sozialen Wohnens in Wien offenhalten.“
Im buchstäblichen Sinne hatte Engels am Ende nicht ganz unrecht: Die soziale Frage lässt sich in der Tat nicht mit Wohnbau beantworten – wenn wir ihn weiterhin im
modernen Verständnis als Typologie begreifen, die ausschließlich der sozialen Reproduktion dient. Erst wenn Wohnbau im Stadtbau aufgeht, kann die soziale Revolution beim Wohnen beginnen. Und das ist eine durchaus politische Antwort der Architektur.
Dank
Für die Initiative, dieses Heft als
Forschungsprojekt und Gastredaktion durchzuführen, danke ich Michael Obrist, der seit der Übernahme der Professur für Wohnbau und Entwerfen das Fachgebiet auf vorbildliche Weise diskursiv ausgerichtet hat, sowie der Impulsgeberin Christina Lenart als auch Bernadette Krejs, die als Lehrende und Gastredakteurinnen wesentlich zum Erfolg des Projekts beigetragen haben. Mein Dank gilt auch der TU Wien, die das Projekt gefördert hat,
sowie allen Kolleg*innen und Studierenden, die inhaltlich zum Diskursraum Wohnen Wien beigetragen haben, entweder als Gesprächspartner*innen in der Forschungsphase oder als Autor*innen in dieser Ausgabe und online auf archplus.net. Und nicht zuletzt gilt mein Dank dem ARCH+ Team, allen voran Nora Dünser, Max Kaldenhoff, Markus Krieger und Goran Travar, und Meiré und Meiré, insbesondere Mike Meiré und Charlotte
Cassel, die ARCH+ als Projekt möglich machen.
Quelle: Anh-Linh Ngo: „Wien: Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)“, Editorial, in: ARCH+ 244 Wien – Das Ende des Wohnbaus (als Typologie) (August 2021), S. 1–3, hier S. 1
Link: https://archplus.net/de/archiv/ausgabe/244/
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